Angezogen ins Grab
Erste eisenzeitliche (um 600 v. Chr.) Gesichtsurne Sachsens aus Liebersee, Kr. Nordsachsen
Mit fast 1000 Gräbern ist der eisenzeitliche Belegungsabschnitt Gräberfeldes von Liebersee südlich von Torgau ist der mit weitem Abstand größte Bestattungsplatz der Epoche im westlichen Sachsen. Die Bestattungen verteilen sich auf alle Jahrhunderte von ca. 700 v. Chr. bis kurz vor die Zeitenwende. Dabei verblüfft in Liebersee die große Vielfalt an Bestattungsriten, Keramikformen und Beigaben. Einzelne Bestattungen, wie das hier vorgestellte Grab 3524, verdeutlichen, wie sehr Liebersee und Sachsen an Elbe, Mulde und Saale in das damalige gesamteuropäische Kommunikationsnetz zwischen Mittelitalien und der Weichselmündung eingebunden waren. Es spiegelt eine große kulturelle Vielfalt.
Die Urnenbestattung stand ohne erkennbare Grabgrube aufrecht im Sand. Außen an der Urne „hingen“ nur von wenig feuchtem Sand gehalten 3 Bronzenadeln und 2 dünne Ringe.
Unsere »angezogene Urne« von Liebersee reiht sich damit in die Gruppe früheisenzeitlicher Gesichtsurnen, wie sie in großer Zahl aus dem Gebiet der Weichselmündung bekannt geworden sind. Neben kunstvoll ausgearbeiteten Exemplaren, auf deren Gefäßkörper Halsschmuck, Fibeln und Gürtelteile oft in Zeichnung wieder gegeben werden, sind auch abstraktere Formen ganz ähnlich unserer Urne dort bekannt. Wesentlich kunstvoller ausgearbeitete Urnen in menschlicher Form finden sich zeitgleich weit entfernt im Süden, im mittelitalischen Etrurien. Die bekleidet beigesetzte Gesichtsurne von Liebersee ist das erste Exemplar aus Sachsen und soll als außergewöhnliches Fundstück im zukünftigen Haus der Archäologie im Chemnitzer Kaufhaus Schocken gezeigt werden.
Im Zuge des derzeitigen Probeaufbaues ausgewählter Exponate entstand der abgebildete Rekonstruktionsversuch. Nadeln und Ringe wurden im Wesentlichen nach dem Grabungsbefund angeordnet, die besonders durchsichtigen Stoffe sollen dem Besucher den Blick auf die Originalnadeln ermöglichen. Die paarig auf der Schulter gefundenen Nadeln könnten dabei ein Untergewand verschlossen haben, die Einzelnadel unter dem Kinn vielleicht einen darüber getragenen Mantel oder eine Art Stola. Die Ringe am Rücken könnten als Besatz eines Schleiers getragen worden sein oder direkt als Haarschmuck gedient haben.
Dr. Wolfgang Ender
Referatsleiter Nordwestsachsen, Gebietsreferent Kreis Nordsachsen (Altkreis Torgau-Oschatz)
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